Sonderdezernat M: Marvin Manz ermittelt

Da Capo al Fine (Leseprobe)

Rolli, alias Roland Neugebauer, trat seine Mittagspause um Punkt 13 Uhr an. Wie immer. Denn professionelles Schnorren war eine Tätigkeit, die einem achtstündigen Bürojob in nichts nachstand. Fast wäre er über die langen Beine gestolpert, die hinter dem Busch herausragten.

Hamdi, alias Hamid Al Quaddiri, hatte soeben seinen nächtlichen Fußmarsch von Traiskirchen nach Baden mit vier Stunden ungestörtem Schlaf zwischen zwei Büschen im Kurpark wieder gutgemacht. Er hatte seinen Platz im Durchgangslager einem anderen überlassen und sich in der Nacht durch ein Loch im Zaun aus dem Staub gemacht. Ohne Ziel … nur weg, und der Name Baden hatte etwas Überzeugendes für eine Stadt. Er würde sich dort was Besseres suchen.

Er öffnete die Augen und blinzelte in ein fremdes Gesicht. Ihm erschien das »Heast Oida1, pack di zamm, bevua de Kiwarei2 di siacht«, nahezu außerirdisch.

Zumindest Grundkenntnisse der deutschen Sprache hatte er sich zu Hause in Damaskus zur Vorbereitung auf die bevorstehende Reise angeeignet. Trotz vieler Beispiele zur Aussprache, die er im Verlauf des Sprachkurses angehört hatte, schien ihm das, was er seit seiner Ankunft in Österreich zu hören bekam, aus einer um Lichtjahre entfernten Sprachgalaxie zu stammen.

Und doch kamen sich der obdachlose Schnorrer Rolli und der heimatlose Hamdi näher. In ihrer Ausstrahlung ähnelten sie jener Personenkonstellation, die es einst als Dick und Doof zu Weltruhm gebracht hatte. Rolli, untersetzt und mit einem Hang zur Rundlichkeit. Hamdi, ausgemergelt lang und konsequent mit zu kleinen Kleidergrößen ausgestattet. Sie zogen gemeinsam los und erweichten die Herzen der Passanten in den Gassen und Passagen der Badener Innenstadt.

Rolli war bis vor zwei Jahren in Wien heimisch gewesen und dort eine kleine Berühmtheit. Er gehörte einer Gruppe von Obdachlosen an, die zusammengeschnorrte Groschen, einige Zeit vor der Umstellung auf den Euro, in ein Los der österreichischen Klassenlotterie investiert und prompt gewonnen hatten.

»Schaut's net so deppert, mir san de neich'n Müllionäre«, war der Originalton, mit dem die Gruppe nach Bekanntgabe der Gewinnnummer zur Auszahlung des Hauptpreises geschritten war. Die Tatsache, dass niemand verstand, warum das Geld nicht sofort zur Abholung bereitlag, hatte für einigen Wirbel gesorgt und der Presse Zeit für Fotos, Interviews und eine Story gegeben.

Doch die hundertfünfundzwanzigtausend Schilling, umgerechnet knapp zehntausend Euro, die jedem der Gewinner zufielen, hielten nicht lange. Der neue Status wurde heftig gefeiert, und zeitweise verließen ganze Einkaufswägen gefüllt mit Spirituosen die Supermärkte.

Da Rolli schon immer ein zukunftsorientierter Mensch war, stellte er, als sich sein finanzielles Depot dem Ende zu neigte, ernsthafte Überlegungen in Bezug auf einen neuen Standort an. Einen Ort, wo man ihn nicht kannte, denn von seiner bisherigen Klientel war künftig kaum Kleingeld zu erwarten. Er war ja, der Presse sei Dank, von jetzt an einer anderen gesellschaftlichen Schicht zugehörig. Und so kam Rolli nach einer Zeit der Wanderschaft in Baden an und arbeitete an einer beruflichen Zukunft als Schnorrer.

Bald schon kannte er jeden Winkel in der Stadt. Er war nahezu unfehlbar darin, zur richtigen Zeit am passenden Ort zu sein, um mit devotem Gesichtsausdruck ein paar Münzen einzuheimsen. Das brachte ihm, wenn das Wetter mitspielte, an manchen Tagen zwischen fünfzig und siebzig Euro ein. Nahm man die Sozialhilfeleistungen dazu, die der österreichische Staat ihm zugedachte, so fristete Rolli sein Dasein mit passablem Einkommen.

Hamdi hingegen hatte nichts außer ein ausständiges Asylantrags-verfahren, in dem man in nicht absehbarer Zukunft darüber entscheiden würde, ob man ihm in Österreich weiterhin Aufenthalt gewährte.

»Alles nur eine Frage der Zeit«, hatte der Beamte gesagt. Aber Hamdi hatte keine Zeit zu verlieren. Er suchte möglichst schnell ein Leben in Frieden und Freiheit. So hatte er sich, aus innerer Not heraus, an den Nächstbesten angehängt. An Rolli.

Seit Tagen zogen die beiden in Baden umher und hatten die Börse mancher Passanten um einen Schein erleichtert. Es war Rolli nicht verborgen geblieben, dass mit Hamdis Kooperation beträchtliche Einnahmen zu lukrieren waren.

»Heast, mir san a guat's Gspann. Wann des so weida geht, dann mei Liaba, weama no a Göd3 ham auf unsre oidn Tag.«

Hamdi nickte, was blieb ihm übrig.

»Und wast wos?«, fuhr Rolli fort. »Zur Feier des Tages gemma jetz a Pizza habern4.«

Dieses Mal war Hamdis Zustimmung heftig. Erstens kannte er Pizza, und zweitens hatte er Kohldampf, dass ihm der Magen schon bei den Knien hing.

»Pizza … ja ja, gut.«

Nachdem sie im Kurpark ihre Tageseinnahmen gezählt hatten und damit überaus zufrieden waren, trotteten sie in Richtung Mühlgasse, um in der dortigen Pizzeria die Erfüllung ihrer Begierde zu finden.

»Do is no a Extraflascherl vom Roten drin«, brüstete sich Rolli. »Des wiad a Schmaus, des sog da i …«

Hamdi befand, dass sein sprachliches Vermögen einer dringenden Anpassung an hiesige Gepflogenheiten bedurfte, wenn er hier heimisch werden wollte. Dessen war er sich zwar grundsätzlich nicht sicher, doch Rollis Job erschien ihm nicht schwierig und, was die nächste Zeit anging, in jedem Fall zukunftssicher.

Mittlerweile hatten sie die Mühlgasse erreicht und Hamdis Magen gab deutlich vernehmbare Geräusche von sich.

»Brav sein … glei hamma's g'schafft«, gab Rolli zur Antwort.

Hamdi und sein Verdauungstrakt waren daran gewöhnt, brav zu sein. Allein die Reise von Damaskus nach Traiskirchen hatte einiges an Bravsein von ihm abverlangt, denn in vielen Gesichtern hatte er Kapitulation gesehen. Ob Alt oder Jung, immer war es ein Anblick, der ihm das Herz aus dem Leib riss. Nicht selten hatte er geweint. Aber er hatte sich nicht aufgegeben, und jetzt war er hier, am Beginn seines neuen Lebens.

»I nimm ane mit olles5… du a?«

Rolli war zwanzig Schritte vor Hamdi am Zielort angelangt und schaute selbstvergessen, hungrig und voller Vorfreude in die hell erleuchteten Fenster des Lokals. Ein denkwürdiger Moment.

Hamdi nickte und war im Begriff etwas zu sagen, als die Druckwelle einer gewaltigen Explosion seinen Partner an die gegenüberliegende Mauer schleuderte.

Es war nicht auszumachen, was genau von der Masse, die transportiert worden war, Rolli ausmachte. Tische, Stühle und vieles, was sich an Mobiliar, Ausstattung und Essen vor wenigen Sekunden im Lokal befand, hatte seinen Platz jetzt im Außenbereich in Form eines tödlichen Durcheinanders.

Die Intensität der Detonation und die Wucht des Aufpralls hatten ausgereicht, um Rolli ins Jenseits zu befördern. Gespickt mit einer Vielzahl an Glasscherben unterschiedlicher Größe, fand man seinen Körper einige Stunden später unter einem Haufen Schutt.

Das tragisch-komische Schnorrerduo aus Baden war damit Geschichte, und Hamdi musste den Weg in sein neues Leben allein weitergehen. Sein Hunger war deshalb um nichts kleiner.

_______________________________________________________

1 Hör zu, Alter
2 Polizei
Weitere Begriffe des Wienerischen unter:
https://echtwien.at/de/wiener-sprache/lexikon
3 Geld
4 essen
5 eine mit allem (Pizza)

KNOCK-OUT

»Na, mal wieder ordentlich gesumpft?«

Blecha schlug die Kronenzeitung zu und tippte auf die Schlagzeile. Dschihad in Österreich? Er schüttelte den Kopf.

»Vom Anschlag in Baden gehört?«

Celia nickte.

»In den Nachrichten.«

»Und die Pratersache?«

Blecha überschlug seine langen Beine auf dem Schreibtisch und warf das Blatt, aus dem sich Herr und Frau Österreicher tagtäglich neben den Fakten der Weltpolitik die Nackte auf Seite 3 reinzogen.

»Ist mir Null und Nüsse«, antwortete Celia.

Sein Blick stach ins Fleisch.

»Danke, den kannte ich noch nicht«, konterte Blecha. »Abgesehen davon schaust du echt scheiße aus. Der Chef hat gefragt, wo du bist. Scheint etwas nervös, nach deinem Massaker beim Training.«

»Lass gut sein, Carlos!«

Ihre Verfassung vertrug keine Sticheleien. Gliederschmerzen, der Schädel brummte und ein Gefühl von Fieber braute sich zusammen.

»Mir geht's nicht gut. Hast du ein Aspirin?«

Inspektor Karl Blecha öffnete seine Schreibtischschublade und kramte eine Packung hervor.

»Sorry, Frau Kollegin. Ich war der Meinung, der Heurigenbesuch sei schuld.«

»Welcher Heurigenbesuch?«

»Na wolltest du nicht zum Zimmermann nach Neustift?«

»Ist nichts draus geworden, hab den Abend in der Horizontalen verbracht.«

»Und wie bitte ist das jetzt zu verstehen?«

Blechas ohnehin schriller Tonfall überschlug sich.

»Gar nicht, Karlchen …«, Celias Schädel pochte. »Ist der Chef in seinem Büro?«

»Jepp … aber mach dich auf was gefasst. Ich glaube, der ist richtig sauer!«

»Ach Scheiße, ist mir doch egal.«

Sie wandte sich ab und auf dem Weg zur Tür entkam ihr: »Dann hole ich mir den Shit eben ab, bevor ich mich krankmelde.«

Celia Eichner war seit fast einem Jahr bei der Wiener Kripo. Aufgewachsen in Hamburgs Nobelviertel Blankenese, mit deutschem Vater und österreichischer Mutter. Dass sie nach einem Einser-Abi ausgerechnet eine Laufbahn bei der Polizei wählte, sorgte für Turbulenzen im Hause Eichner. Doch die kamen Celia nur recht, und erleichterten ihr den Absprung in ihr eigenes Leben.

Abschluss an der Polizeihochschule mit Auszeichnung. Im Rahmen eines Erasmus Programms absolvierte sie zwölf Monate in Lyon mit Schwerpunkt Drogenkriminalität. Dann der Einstieg bei Europol in Den Haag, Abteilung Terrorbekämpfung. Ganze zwei Jahre wohnte und arbeitete sie in den Niederlanden.

Celia liebte die Arbeit, und sie war beliebt bei ihren Kollegen in Den Haag. Ein zuverlässiger Kumpel und knallhart im Einsatz. Es kam vor, dass selbst kräftigere Burschen ärztlich versorgt werden mussten, nachdem sie von ihr zunächst ran- und dann festgenommen wurden. Sie erledigte ihren Job perfekt und in ihrer Akte war eine Neigung zur Gewalttätigkeit vermerkt, was sie als Auszeichnung hinnahm.

Die über sechs Monate dauernde Affäre mit Jacques, einem Spezialisten für das Entschärfen von Sprengsätzen, war heftig verlaufen. Zu spät erfuhr sie, dass er Frau und Tochter hatte.

Nach zwei Wochen lautstarken Auseinandersetzungen und einem Vorfall, der sie an ihre Grenzen brachte, quittierte sie ihren Dienst. Innerhalb von drei Tagen löste sie die kleine Wohnung in Archipel-buurt auf und saß am nächsten Tag in der Maschine nach Bali.

Es dauerte Wochen, bis Celias Welt wieder in Ordnung kam. Und ein paar Weitere benötigte sie, um Gedanken an die Zukunft zuzulassen. Umwege und Kontakte brachten sie zur Kripo in Wien, und die Firma besorgte ihr eine Wohnung in einem Dachgeschoss im Siebten. Hier, am Spittelberg, war sie zuhause, und als Draufgabe hatte sie den besten Eissalon Wiens in ihrer Nähe.

Auf das »Ja, bitte …«, nach ihrem Klopfen öffnete Celia die Tür zum Büro des Vizepräsidenten.

»Sie wollten mich sprechen?«

»Ah sicher, kommen Sie. Äh … ja, ich wollte Sie wegen der Sache am Freitag hören.«

Polizeivizepräsident Emil Dirnberger rückte Papiere auf seinem Schreibtisch zurecht, ordnete Stifte und prüfte die Funktionalität des Telefons.

»Der Kollege konnte erst nach Stunden zu dem Vorfall vernommen werden. Diverse Frakturen im Gesicht, die Nase zerschmettert und er wird eine Weile lang seinen Job nicht ausüben können. Celia, hatten Sie sich nicht unter Kontrolle?«

Er sah auf seinen Schreibtisch und schüttelte den Kopf.

»Als hätte die Pratersache letzte Nacht nicht ausgereicht. Heute Morgen ist mir die Interne gleich bei Dienstbeginn auf den Pelz gerückt.«

Dirnberger schnaufte hörbar.

»Da werden Sie um ein Disziplinarverfahren nicht herumkommen. Und wenn es übel ausgeht, dann war's das für Sie bei der Kripo. Mit etwas Glück ist dann wieder Streife angesagt. Und wenn Sie Pech haben …« Er starrte sie an.

»So, jetzt zu dir, Muschi!«

Die Worte des Trainers hallten in ihr wider. Er hatte das Entwaffnen und In-Schach-Halten von drei Gegnern demonstriert und war im Begriff, sich auf sie stürzen. Celia reagierte mit einer schnellen Drehung und landete ihren Ellbogen in seinem Gesicht.

»Selber Muschi!«, gab sie dem K.o.-ling auf dem Weg zur Matte mit und entschuldigte sich für den Rest des Trainings. Jetzt lag der Trainer im Spital, und Celia saß auf dem Stuhl im Büro des Vize.

»Sie können nicht die eigenen Leute ausschalten. Wir sind die Guten! Das sollten Sie doch eigentlich verstanden haben.«

»Sorry, ist blöd gelaufen.«

»Ja, das könnte man behaupten.« Der Vize war sauer.

»Er hat mich provoziert, aber …« Kopfschütteln und Schulterzucken. Warum ausgerechnet dieser Satz?

»Hm …«, mehr fiel ihr dazu nicht ein.

»Ich bitte Sie! Wie soll ich das denn hindrehen? Arbeitsunfall beim Nahkampf? Schwachsinn.«

Wieder starrte er sie an.

»Ich bezweifle, dass das durchgeht. Celia, wenn das an die Presse geht. Ganz Wien lacht über uns. Die Sache mit dem Mayer ist noch nicht so lange her, und jetzt prügeln sich die Unsren gegenseitig krankenhausreif. Treten wir demnächst am Heumarkt auf?«

Celia suchte ein Grinsen zu unterdrücken. Die Bilder, wie Rambo und seine Wrestling-Gang die Kollegen beim Catchen in Uniform aufmischen, hatten reizvoll Groteskes an sich.

»Ok. Ich werde mich bei ihm entschuldigen.«

»Das halte ich für eine ausgezeichnete Idee. Fahren Sie ins AKH(*FN* Allgemeine Krankenhaus*FN*) und schauen Sie, in Ihrem eigenen Sinne, dass er von einer Anzeige absieht.«

Der Vize stand hinter seinem Schreibtisch und signalisierte, dass das Treffen damit beendet war.

»Ich hab im Augenblick genug um die Ohren. Nimmt man sich einmal das Wochenende frei …«, schüttelte er den Kopf.

»Hast du noch ein Aspirin?«

Wieder in Blechas Büro, fand sie ihn mit einer Semmel über seiner Bürolektüre. Der Geruch von Extrawurst erfüllte den Raum. Ekel überkam sie.

»Großes Frühstück heute?«

Aus seiner Lade zog er die Schachtel hervor.

»Kannst du behalten.«

»Danke.«

Celia steckte die Packung ein.

»Was war denn los im Prater? Der Alte war völlig außer sich.«

»Üble Sache«, begann Blecha kauend.

»Zwei Kollegen hat's erwischt. Der Eine is ex, und der Andere womöglich im Rollstuhl.«

Ein weiterer Biss in die Semmel.

»Mist.«

Selbst wenn sie die Kollegen nicht kannte, war es hart, so etwas zu hören.

»Ich muss ins Bett. Melde mich krank für heute.«

»Alles klar. Kurier dich aus.« Sein Blick war mitfühlend.

Mit einem Nicken verabschiedete sie sich aus dem Büro. Das Wasser in ihren Augen reichte bis an die Staumauer. Was jetzt? Am Donaukanal den Kopf freikriegen oder ins Café Stein auf einen kleinen Braunen und einen großen Schnaps? Im Anschluss auf jeden Fall ins Bett.