Future 5.0 Serie (Band 1)

Exit 2020 (Leseprobe)
GUTEN MORGEN, BERLIN ...
24. Dezember 2019, Berlin
Mit einem Seufzer der Erleichterung wuchte ich Christbaumkugeln, Lichtergirlanden und Lametta in den Rachen des Müllcontainers.
»Fröhliche Weihnachten!«
Endlich. Jetzt noch was einkaufen und dann war's das für heute. Was für ein Scheißtag. Genau wie gestern, vorgestern und alle Tage in letzter Zeit. An der Ampel wummert eine Karre aus offenen Fenstern. Guten Morgen Berlin …
Der Duft von Haschisch steigt mir in die Nase.
Mein Telefon surrt. Stella.
»Ja?«
»Hey, ich bin's ...«
»Wer spricht?« Was sonst hätte mir einfallen können.
»Ach komm. Wo bist du?«
»Unterwegs ...«, ich zögere, »... und du?«
»In Athen. Über Weihnachten und Neujahr bin ich bei meinen Eltern.«
»Ah ...«
Die Bilder der Stadt tauchen auf. Der Flohmarkt in Monastiraki, wo wir alles Mögliche weggeschleppt und im Haus ihrer Eltern zwischengelagert hatten. Die Sachen liegen mit Sicherheit immer noch dort. Das Hotel Grande Bretagne, wo einem selbst der Cappuccino präsentiert wird, als gehöre man dem Onassis-Clan an. Edel, teuer und alles in Gold. Auf dem Lykavittos haben wir die halbe Nacht lang geknutscht, unter uns die Lichter von Athen.
»Sie grüßen dich.«
Meine Eingeweide krampfen.
»Ja, Grüße ... auch von mir ... ähm herzlich und schöne Feiertage.« Mein Zwerchfell bebt, das Jammern drücke ich weg.
»Danke, das wünsche ich dir auch.«
Es war ihre Stimme, von Anfang an.
»Alles okay bei dir? Was machst du die Tage?«
»Ähm ... wollte eigentlich ein Fest schmeißen.«
»Echt?«
»Ja, die Gästeliste umfasst dreiundsechzig Leute, dich eingeschlossen, ohne Holger.«
»Du, also ...«
»Dann aber hat mein Agent Druck gemacht, wegen des Romans. Hat 'nen Verlag am Haken und macht jetzt auf Dringend.«
»Oh, das klingt super.«
»Ja und deshalb schreibe ich während der nächsten Tage. Heißt, kein Fest.«
»Verstehe. Sehen wir uns mal, wenn ich zurück bin?«
»Ja, klar. Meld dich einfach. Okay?«
»Okay. Na dann mach's gut. Bis bald.«
Am liebsten würde ich das Handy auf die Straße donnern.
Ausgerechnet Holger, dieser glatzköpfige Speichellecker, Sesselfurzer bei der Deutschen Bahn. Ich wünschte, ich wäre durch damit, verflucht.
Ich schalte das Handy auf Flugmodus. Über mir die kreischende S-Bahn und ein Schwarm Krähen. Der Himmel, kaum hell, verbreitet bereits am Vormittag Weltuntergangsstimmung. Das Schneetreiben nimmt zu und ich ziehe die Mütze tiefer ins Gesicht, stülpe die Kapuze darüber und stapfe weiter, meinem Vorhaben entgegen.
Verlag ... Fest. Bin ich total bekloppt?! Jetzt fange ich schon das Lügen an. Nur um zu zeigen, dass ich klarkomme. Dabei ist mein Leben Schrott. Ich fühle mich wie Sperrgut, das die Leute hier täglich auf die Straße stellen und davon ausgehen, dass jemand kommt, der den Kram mitnimmt. Aber wer braucht schon den ganzen Müll – Fernseher, Trockenhauben, Matratzen, ... mich?
Das Weihnachtsgedudel im Park-Center hat mir echt noch gefehlt. Bing Crosby und Dean Martin legen sich ins Zeug mit ihrem Traum von weißer Weihnacht. Die Läden haben zum Torschluss-Shopping geöffnet und abends werden sich alle in ihre O Tannenbaum-Idylle begeben. Armes Deutschland.
Ich schnappe mir einen Einkaufswagen und ein Gedanke breitet sich aus: Ja, warum nicht schreiben? Wäre ein verzweifelter Weihnachtssuizid die bessere Option?
Im Wagen landen Spaghetti, Tomatensoße, Toastbrot, gemahlener Kaffee und H-Milch. Aus dem Kühlregal hole ich Salami und geriebenen Käse. Kartoffelchips, ein Sixpack Dosenbier und eine Flasche Bourbon runden den Einkauf ab. Ist ja Weihnachten. Keine Wartezeit an der Kasse.
Routinemäßig halte ich beim Griechenstand und kaufe Oliven, Tsatsiki und eine Flasche Plomari Ouzo. Beim Bezahlen erinnert mich der Kloß im Hals an das Telefonat mit Stella.
Bloß schnell nach Hause.
Der Schneefall ist stärker. Dicke, vom Wind gepeitschte Flocken fallen herab und die sonst so laute 96a hat sich in eine Kriechspur verwandelt, auf deren weißem Teppich große und kleine Fahrzeuge sanft dahingleiten.
Schreiben ... wieso nicht?
Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, biege ich in die Moosdorfstraße ein. Ich fand meine Wohnung heute vor genau fünf Jahren, im Zuge eines ausgedehnten Spaziergangs im Treptower Park, oder sagen wir besser in Folge einer Flucht aus der Hölle meines Elternhauses.
Selbst zu Weihnachten war es ihnen unmöglich, sich zusammenzureißen. Das Porzellan flog durch die Küche, und ich bin abgehauen. Zu Micha. Mary war mit ihren Eltern verreist, und so verbrachten er und ich ein paar Männertage.
Das mit der Wohnung hat dann auf Anhieb geklappt. Ich war der Erste, der sich auf das im Fenster ausgestellte Schild meldete, und hinterließ beim Vermieter einen guten Eindruck. Das war's.
Seitdem wohne ich in Alt-Treptow, direkt vis-à-vis vom größten Park Berlins, in einer Drei-Zimmer-Wohnung mit Balkon im dritten Stock eines einst äußerst begehrten Hauses. Und der Preis kommt einem Augenzwinkern unter Freunden gleich.
Ich öffne meine Wohnungstür und mir wird klar, dass es mit dem Schreiben so lange nichts werden wird, bis ich hier nicht für Ordnung gesorgt habe. Das Durcheinander ist nicht etwa Ausdruck meiner aktuellen Lebenssituation; das, was ich hier vorfinde, reicht gut und gerne für zwei Messi-Leben.
Big Brother
BND Zentrale Berlin, Abt. Cybersicherheit
»Wachablösung ...«
»Hallo, Paul. Mensch bin ich froh, dass du kommst. Mir sind schon mehrfach die Augen zugefallen.« Tobias Müller streckt sich auf seinem Stuhl und reibt sich die Müdigkeit aus dem Gesicht.
»Na, das lass mal nicht den Alten erfahren. Aber genau deshalb bin ich hier. Frisch geduscht und rasiert, um 'ne Leiche wie dich, nach sechzehnstündiger Verfolgungsjagd im Cyberspace abzulösen. Scheißjob, oder?«
»Das kannst du laut sagen. Gerade an einem Tag wie heute.«
»Glaub ich dir. Der Mief hier drinnen ist übel.« Er öffnet das Fenster. »Wirst gleich wach werden. Ist nämlich ordentlich kalt draußen.«
»Mann, steht eigentlich in unserem Vertrag, dass wir derart ranklotzen müssen? Mein Hintern ist schon ganz wund, und beim Bund habe ich weitaus öfter die Sonne gesehen.« Schwerfällig erhebt sich Tobias von seinem Stuhl.
»Nö, wo denkst du hin? All-In-Verträge, verehrter Kollege. Heißt, dass du dir, je nach Bedarf, den Arsch so weit aufreißt, bis du das Gefühl hast, auf 'ner umgedrehten Gletscherspalte zu sitzen. Und der Bedarf des BND ist, wie du ja weißt, immer sehr groß.«
»Puh, so bekommt Du kannst mich mal 'ne völlig neue Dimension.«
»Und wie verbringst du Weihnachten?«
»Ehrlich gesagt, ist mir erst seit heute Morgen bewusst, was Sache ist. Ich renne gleich los, ein paar Geschenke besorgen. Dann werde ich sehen, ob meine Familie überhaupt noch dort wohnt, wo ich gemeldet bin, mache auf Familienoberhaupt, und wenn ich großes Glück habe, gibt's heute Sex.« Tobias grinst und schlüpft in seinen Parka.
»Na dann ... fröhliche Weihnacht ...«, ergänzt Paul mit einem Singsang, »Als Single habe ich solche Probleme nicht, dafür Sex am Fließband. Apropos Sex ... was macht denn unser Hüpfer?«
»Werde aus dem Kerl nicht schlau. Letzte Nacht war absolut nichts los. Doch in der letzten Stunde hab ich ihn acht Mal geortet, dachte ich zumindest. Er springt, wohin er will, hat sich scheinbar weltweit Knoten eingerichtet. Aber woher das Ursprungssignal kommt ... keine Ahnung.«
»IP?«
»Wo denkst du hin? Der Typ ist ein echtes Aas.«
»Oder ein Ass.«
»Bedingt sich wahrscheinlich. Also bis demnächst, ich hau jetzt ab.« Tobias hat die Tür in der Hand.
»Ja, mach's gut ...«, Paul hat sich den Platz eingerichtet, »... und ein paar schöne Tage mit deiner Familie.«
Ordnung muss sein
Nach drei Stunden konzentrierten Arbeitens ist die Wohnung in einem halbwegs ordentlichen Zustand. Das Putzen, Ordnen und Aussortieren hat meinem Gehirn eine Entspanntheit gebracht, die ich so eher selten erlebe. Abgesehen davon hat sich mein Gemütszustand, gemessen auf einer Skala von eins bis zehn, von minus drei auf plus vier verbessert.
Es ist beinahe gemütlich, und ja, ich habe Lust zu schreiben. Mein Holzofen knistert vor sich hin und verbreitet heimelige Wärme. Das Holz wartet schon seit einem Jahr darauf, seinen Zweck zu erfüllen. Das Bier ist kalt, und ich habe ein paar Toasts für einen womöglich langen Schreibabend vorbereitet. Seit Beginn der Arbeit am Roman habe ich mir sechs zusätzliche Kilos angefuttert. Meine Texte hingegen haben sich um kein einziges Gramm verbessert. Egal.
Ich befreie das Handy aus dem Flugmodus. Der grüne Punkt am Icon zeigt, dass WhatsApps eingegangen sind. Sicher die üblichen Grüße und Nachrichten von Mama, Tante Emmi und Cousine Gloria, die mit Mann und zwei kleinen Nervensägen in Rio lebt. Papa schickt prinzipiell keine Grüße; dafür, leider oder Gott sei Dank, jeden Monat Geld. Das ist zwar grundsätzlich peinlich, weil ein Mann mit siebenundzwanzig Jahren finanziell auf eigenen Beinen stehen sollte. Doch es ermöglicht mir die ... Ja, was eigentlich?
Fast wäre mir Schriftstellerei rausgerutscht. Aber das ist, wenn ich ehrlich bin, maßlos übertrieben. Klar schreibe ich, hauptsächlich Kurzgeschichten und Erzählungen. Einiges davon ist veröffentlicht. Seit fast drei Jahren arbeite ich an einem Roman, den ich in der spontan erlogenen Schreibklausur fertigstellen könnte. Dann wäre ich, zumindest in diesem Punkt, von Schuld freigesprochen. Doch ich gestehe: Letztes Weihnachten hatte ich das auch schon vor.
WhatsApp wird aufgerufen. Wie erwartet senden Mama, Tante Emmi und Cousine Gloria – begleitet von lauten Kinderturbulenzen – ihre besten Wünsche zum bevorstehenden Fest. Und wie immer haben Mamas weinerlicher Ton und Tante Emmis verbale Drohgebärde zur Folge, dass ich mich ein kleines bisschen schuldig fühle. Glorias von Hintergrundgebrüll durchtränkte Einladung nach Rio zaubert mir wiederum ein Lächeln ins Gesicht. Da unten ist es jetzt warm.
Mamas Nachricht liegt mir schwer im Magen. »Sveni, wann kommt ihr mich denn endlich mal besuchen? Alle im Haus fragen nach dem Buzzi. Die Kleine sieht dir so ähnlich.«
Oh Mama ... Mama, wohin führt das? Du belügst deine Nachbarn? Auf dem Foto, das ich dir geschickt habe, ist zwar Mona, aber sie ist Michas Tochter. Du kennst doch Micha. Wir waren zusammen im Kindergarten. Und wieso nennst du mich immer noch Sveni? Mama ... ich war damals fünf!
Von der Sache mit Stella habe ich ihr nichts erzählt. Warum auch? Humaner wäre gewesen, ihr mit dem Hammer den Schädel einzuschlagen als ihr das Einzige zu nehmen, woran sie sich in ihrem Leben noch festhält: Enkelkinder.
Die letzte Nachricht kommt von einer unbekannten Nummer. Ob Stella was hinterlassen hat? Unter Umständen hat sie ein zweites Handy. Ihr Akku war leer und sie hat vom Apparat des Vaters oder, das glaube ich eher, der Mutter geschrieben. Was soll's ... ich entscheide mich, es zu öffnen ... und lese: Hey Sveni, wo bist du? Lange gewartet. Check AICAT. Dringend. Melde mich. Marc.
»Sveni? What the f ...« Ich starre auf die Nachricht, lehne mich im Stuhl zurück und meine Hand greift automatisch zum Salami-Toast. Zu dieser Mahlzeit brauche ich etwas zu trinken. Zwei Minuten später begleitet der erste große Schluck den Happen auf seinem Weg hinab.
Marc ... sagt mir nichts. Keiner meiner Freunde oder Bekannten hört auf diesen Namen. Und AICAT? Was soll das sein? Nachdem der Toast verdrückt und das zweite Bier geöffnet ist, bin ich mit der Whatsapp keinen Schritt weiter.
Ich fahre den Laptop hoch und sehe nach der Startprozedur ein neues Icon – AICAT. Spontan austretender Schweiß macht mir das Hemd nass. Jemand hat sich Zugriff auf meinen Rechner verschafft, und das im ausgeschalteten Zustand?
Der Klick auf das Fenster-Symbol befördert mir die Einstellungen zutage. Ich klicke mich durch und erhalte die Möglichkeit, unerwünschte Anwendungen aus meinem Rechner zu verbannen. Konzentriert suche ich nach AICAT ... nichts. Verdammt ... das Icon ist auf dem Desktop, das Programm ist installiert und ich bin nicht in der Lage, es wieder zu löschen.
Okay, konzentriere dich. Was sind die Optionen?
Jemand war auf meinem Rechner. Hatte Zugang zu den Daten und hat sich unter Umständen sogar sämtliche Texte heruntergeladen. Verdammt ... ich kippe das restliche Bier auf ex in mich rein und überlege. Was gibt es groß zu stehlen? Meine Werke sind vom Nobelpreis genauso weit entfernt wie Stockholm von Kapstadt. Die wenigen E-Mails, keine sozialen Netzwerke, keine Pornos. Und Online-Banking betreibe ich zweimal im Jahr. Hab eh kaum Geld auf dem Konto. Also was?
Aus dem Mut der Verzweiflung heraus klicke ich doppelt auf das AICAT-Symbol, auf die Gefahr hin, dass mein noch nicht in die Jahre gekommener Laptop gleich explodiert. Die Befürchtung trifft nicht ein. Stattdessen öffnet sich ein Videofenster, und nach kurzer Zeit blicke ich in das Gesicht eines Grünschnabels.
Das Bild zeigt einen Jüngling mit Locken und flaumigem Bartansatz. Er trägt eine lila Baseball-Kappe mit goldener Aufschrift Leakers. Mein Blick heftet sich auf den Schriftzug. Okay, ich verehre die Los Angeles Lakers, Kobe Bryant, LeBron James und die anderen Cracks, die den unbedingten Respekt eines jeden verdienen, der sich wie ich für Basketball begeistert. Die Leakers hingegen sagen mir nichts. Ich zögere. Der Biss in den zweiten Toast hilft mir aus der Not. Ich öffne das dritte Bier und klicke das Video an.